Dieter Axmann
Fachanwalt & Strafverteidiger
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44139 Dortmund
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NOTFALLNUMMER 0151 / 21822975
Wenn es um einen lange zurückliegenden Fall von Kindesmissbrauch geht und Aussage gegen Aussage steht, muss das Strafgericht klären, ob bei der Belastungszeugin im Lauf der Jahre Pseudoerinnerungen entstanden sein können.
Ein Mann stellte Revisionsantrag beim BGH, nachdem er wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in drei Fällen gemäß § 176 StGB verurteilt worden war. Ihm war die Zahlung von 10.000 Euro auferlegt worden. Zum Zeitpunkt der Taten, die rund zwanzig Jahre zurückliegen, war er Teenager und Babysitter der damals acht bis zehn Jahre alten Zeugin. Laut Urteil des Landgerichts hatte er in einem Fall einen Samenerguss gegen den Bauch des Mädchens. Diesen Vorfall hatte der Angeklagte eingeräumt. Nach Aussage der Zeugin versuchte er in zwei weiteren Fällen, seinen Penis in ihre Scheide einzuführen. Diese Darstellung bestritt der Angeklagte. Das Landgericht folgte jedoch den Aussagen der Zeugin, das als Nebenklägerin auftrat.
Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf. Nach Meinung des BGH hatte das Landgericht nicht ausreichend begründet, warum es sich allein auf die Aussage der Zeugin stützte. Da sie die einzige Belastungszeugin war und Aussage gegen Aussage stand, galten besonders hohe Anforderungen an die Beweiswürdigung. Der erste Strafsenat bemängelt Widersprüche in der Bewertung des Landgerichts. Dieses hatte die Angaben der Frau als „subjektiv wahr“ und „objektiv richtig“ bewertet, obwohl sie keine genauen Erinnerungen an den Sachverhalt der Vergewaltigung hatte. Außerdem ging es von konstanten Angaben des Opfers zu dem Geschehen über viele Jahre hinweg und gegenüber verschiedenen Personen aus – einer Seelsorgerin, zwei Therapeutinnen, der Polizei und im Strafverfahren selbst. Für den BGH waren diese Schilderungen jedoch diffus, konkrete Schilderungen fehlten.
Vor allem monierte der BGH, dass das Landgericht sich zu wenig Gedanken über mögliche suggestive Einflüsse und Pseudoerinnerungen gemacht hatte. In dem vorliegenden Fall war zu klären, ob durch die verschiedenen Gespräche und Therapien über einen langen Zeitraum hinweg möglicherweise solche Scheinerinnerungen entstanden sein konnten. Die Urteilsbegründung hätte suggestive Einflüsse entweder ganz ausschließen oder auf weitere Beweise für das Geschehen verweisen müssen. Das Landgericht hatte jedoch nur auf eine „Aussage mit vielen Realitätskennzeichen“ verwiesen. Das reichte dem BGH nicht, denn auch Scheinerinnerungen können sehr detailreich ausgestaltet sein: „Pseudoerinnerungen können nicht ohne Weiteres durch merkmalsorientierte Aussageinhaltsanalysen überprüft werden, … scheinbare Realkennzeichen sind bei Pseudoerinnerungen in ähnlicher Weise anzutreffen wie in realen Erlebnisbeschreibungen.“
Genauso wenig darf dem BGH zufolge aus der erheblichen psychischen Belastung eines Opfers auf die Tat geschlossen werden, die wiederum die Belastung verursacht habe – ein Zirkelschluss. Bei der Zurückverweisung des Falls legten der BGH dem Landgericht Konstanz nahe, bei der erneuten Verhandlung ein aussagepsychologisches Gutachten zu möglichen suggestiven Einflüssen auf das Opfer einzuholen.
Dieter Axmann ist Fachanwalt für Strafrecht aus Dortmund. Er hat bereits Hunderte von Mandanten gegen den Vorwurf von Sexualdelikten verteidigt und verfügt nicht nur über große Erfahrung im Sexualstrafrecht, sondern auch über umfangreiche Spezialkenntnisse der Aussagepsychologie.